Eine Kritik des Lebensraum-Managements: Was es in letzter Konsequenz bedeutet

Geschrieben von Matthias Burzinski am . Veröffentlicht in Lernkurve (Zukunftsblog)

Fotocollage Deutschland Lebensraum

 

Einige gesammelte und persönliche Gedanken zu einem populären Ansatz des Destinationsmanagements. Von Matthias Burzinski.

Im Überblick

  • Der Tourismus scheint manchmal zu vergessen: Es gibt schon eine Lebensraumgestaltung.
  • Der Tourismus ist kein Vorreiter, sondern ein Spätstarter.
  • Sind wir eigentlich legitimiert dazu?
  • Für Lebensräume brauchen wir keine DMOs mehr.
  • Gemeinwohl trifft es besser.
  • Der Tourismus hat weder instrumentelle "Hebel" noch Ressourcen für das Lebensraummanagement.
  • Kompensieren wir vielleicht einen Minderwertigkeitskomplex?
  • Wachstum kann auch noch sinnvoll sein.
  • Lebensraum und Zielgruppenfokussierung können auch im Widerspruch zueinander stehen.
  • Sind wir nicht mehr die Anwälte:innen der Gäste?

 

Ich möchte zu Beginn etwas über mich erzählen: Ich habe, es ist schon einige Zeit her, Kulturgeographie studiert, außerdem Landesentwicklung und Raumplanung sowie Kartographie/Fernerkundung und Volkswirtschaftslehre. Ich bin schon in meinem Studium Anfang der 90er-Jahre mit dem Klimawandel konfrontiert worden und wollte - ehrlich - die Welt verbessern.

Die ersten Jahre meines Berufslebens habe ich in Planungsbüros gearbeitet, Wohnumfeldverbesserung, Verkehrsberuhigung, Parkraumkonzepte, Einzelhandelsgutachten, später dann Altlasten, historische Erkundungen, dann Nutzungs- und Entwicklungskonzepte für Industriebrachen, worüber ich zur Attraktionsentwicklung und letztlich zum Tourismus und zur Kultur gekommen bin. Tourismusmanagement habe ich nebenbei im Fernstudium "erledigt". Mit einem inspirierenden Abstecher ins Digitale als Content-Manager bei einem frühen Tourismus-Start-up.

Als ich im Tourismus und Kulturmanagement schon einige Jahre unterwegs war, ist mir sogar noch mal die Co-Geschäftsführung eines Planungsbüros mit Schwerpunkt Stadtentwicklung angetragen worden. Ich habe damals nach einigem Nachdenken abgelehnt. Warum?

Ich hatte damals schon das Gefühl, dass ich zu tief in den Tourismus eingetaucht war, destinet.de weiterentwickeln wollte. Ich hätte mich noch mal intensiver mit Planungsrecht, Städtebau, Stadt- und Regionalentwicklung etc. beschäftigen müssen. Ich liebe das, aber ich liebe auch den Tourismus und die Kultur und die Menschen, die dort aktiv sind.

Grundsätzlich denke ich jedoch: Ich verstehe schon etwas von Planungsprozessen, städtebaulichen Fragen und nutze dies auch heute noch, wenn ich z.B. Kulturimmobilien konzipiere oder berate, Erlebnisräume entwickle, Marken und Storys auch räumlich denke etc. Mich verwundert das manchmal, dass das jetzt erst von vielen Touristikern:innen vor Ort entdeckt wird.

 

Es gibt schon eine Lebensraumgestaltung

Dort in den Planungsämtern, den Planungs- und Architekturbüros, in der Verkehrsplanung und allen anverwandten Disziplinen gestalten sie schon lange aktiv und partizipativ (!) unseren Lebensraum. In der Politik natürlich auch - oder grundsätzlich in der Legislative. Man schaue sich nur die unzähligen Leitfäden zur Bürgerbeteiligung oder die teils sehr kreativen Partizipationsideen der Planer:innen an. Um es mal klar zu sagen: Die haben uns da oft Einiges voraus. Für viele anscheinend überraschend: Es gibt schon eine Lebensraumgestaltung, sie nennt sich Stadt-, Regional- oder Landesplanung.

Dass die Entwicklung der Städte und ländlichen Räume in den letzten Jahrzehnten nicht immer in die richtige Richtung ging, das kann und muss man kritisieren. Die autogerechte Stadt von heute - ein Beispiel - ist in weiten Bereichen lebensfeindlich. Aber viele Prozesse haben sich auch zum Positiven verändert.

 

Das große Umdenken hat begonnen

Und natürlich hat das Umdenken auch in den zuständigen Planungsabteilungen & Co. längst begonnen, früher als im Tourismus, der wie "besoffen" war vom Wachstum. Und in Bonn, der Stadt, in der ich zurzeit lebe, kann ich das live verfolgen, wie unter einer neuen grünen Bürgermeisterin mit entsprechender politischer Gestaltungskraft alte durch neue Planungsprinzipien ersetzt werden. Selbstverständlich mit allen gesellschaftlichen und auch verwaltungsinternen Konflikten und Verwerfungen. Es ist ein langer Weg. Und wer glaubt, dass die Planer:innen überall nur darauf gewartet haben, dass ihnen die Touristiker:innen endlich mal sagen, wie so ein Lebensraum gestaltet wird, täuscht sich.

Ich arbeite derzeit gerade in zwei Projekten an städtebaulich orientierten Tourismuskonzepten und Revitalisierungen, die sich in Stadt- und Regionalentwicklungsprozesse einbetten. Und ich weiß, wo da meine, unsere Grenzen sind, sowohl im Planungsrecht als auch im Naturschutzrecht oder in Verwaltungsprozessen und vielen anderen Spezialfragen der vermeintlichen Lebensraumgestaltung. Der Tourismus und seine Akteure:innen sind da nur einer von vielen Trägern öffentlicher Belange (TÖB).

Doch jetzt - so sehen es viele - sollen wir im Tourismus dafür verantwortlich sein, den Lebensraum zu gestalten. Warum eigentlich?

 

Warum sollen wir plötzlich für den gesamten Lebensraum zuständig sein?

Die Corona-Pandemie und der nicht mehr zu leugnende Klimawandel hat uns - relativ spät, finde ich - bewusst gemacht, dass auch wir auf einem Irrweg waren/sind. Im Tourismus hat das oben skizzierte Umdenken erst wesentlich später in der Breite eingesetzt als in anderen Disziplinen. Wir hinken da hinterher. Wir haben es uns auf sporadischen Umweltinitiativen, einigen Greenwashing-Aktionen oder gar der Idee, der Tourismus würde die Welt offener und demokratischer machen, bequem gemacht. Nur ein Beispiel: Wenn Letzteres so wäre, müsste China mittlerweile das freieste Land der Welt sein: Ist es aber nicht. Es ist eine grausame Diktatur. Daran hat keine Reise etwas geändert. Würden wir tatsächlich moralische Maßstäbe anlegen, dürften wir mit China - ebenso wie mit Russland - keine Geschäfte mehr machen. So weit sind wir noch lange nicht.

Hier vor Ort offenbaren sich die Probleme eher in Overtourism-Erscheinungen, ungerechten Arbeitsverhältnissen, Zerstörung von Naturräumen etc. Und natürlich in den immer offensichtlicher zutage tretenden Folgen des Klimawandels: Unwetter, überhitzte Städte, Trockenheit, Waldsterben etc.

Für mich stellt es sich so da, dass wir analog zu den Planern:innen und bisherigen Lebensraumgestaltern:innen, spüren, dass es so nicht weitergehen kann, dass wir innerhalb des Systems Tourismus, aber natürlich auch an den Schnittstellen zu den anderen Disziplinen, Mobilität, Planung, Naturschutz, soziale Gerechtigkeit etc., aktiv werden müssen, den Wandel gestalten müssen.

 

Sind wir da wirklich "zuständig"? Oder gar legitimiert?

Was ich daraus aber nicht ableiten kann, ist eine quasi übergreifende Zuständigkeit für den so genannten "Lebensraum". Woraus soll diese Legitimation resultieren? Ich will mich hier nicht dümmer stellen, als ich bin: Mir ist schon klar, worum es geht. Wir - die Akteure:innen im Tourismus - müssen endlich verstehen, dass es nicht nur um die Gäste von außerhalb, die Touristen:innen geht, sondern auch um Einheimische und Mitarbeiter:innen in der Branche, die natürlichen Lebensgrundlagen, unsere Umwelt, das Klima etc. Das ist vollkommen unstrittig und der Ansatz ist richtig, aber das macht uns nicht zu DEN Lebensraumgestaltern:innen oder -manager:innen. Wie auch? Wir haben (meist) KEINE Instrumente und Hebel in der Exekutive und der Legislative, um direkt Einfluss nehmen zu können. Wir sind KEINE Stadt-, Regional-, Verkehrs-, Naturschutzplaner:innen etc. Und wir sind damit auch in KEINER Weise beauftragt oder gar demokratisch dazu legitimiert. Klar: Wir können kommunizieren, einwirken, moderieren, koordinieren usw.

Aus Sicht eines Bonner Bürgers würde ich mich jedoch dagegen verwehren, wenn der Tourismus sich hier aufspielen würde, das Lebensraum-Management führend zu übernehmen. Das ist nicht gegen die Kollegen:innen vor Ort gerichtet. Ich möchte angesichts der Komplexität der Aufgaben einfach nicht, dass die Stadt Bonn verantwortlich von Touristikern:innen gestaltet und "gemanagt" wird. Und ich glaube, da bin ich als Bürger nicht der einzige.

 

Nur der falsche Begriff?

Kann es sein, dass wir hier einfach einen schlechten Begriff gewählt haben?

Ich will mich jetzt gar nicht darüber auslassen, dass auch der Begriff historisch vorbelastet ist. Wer sich trotzdem gerne selbst quälen möchte, dem empfehle ich einen Blick in die Geopolitik und die Nutzung des Begriffs im Kolonialismus, Nationalismus bis hin zum Nationalsozialismus. Aber darüber kann man noch hinwegsehen. Geschichte.

Ich denke eher, er suggeriert möglicherweise etwas, zu dem wir - s. oben - vielleicht gar nicht in der Lage und legitimiert sind, zumindest so lange wir über DMOs reden. Der Tourismus bzw. entsprechende Organisationen, die sich auch umfassender mit der Regionalentwicklung befassen, sind in erster Linie Moderatoren:innen eines Ausgleichsprozesses zwischen öffentlichen und privaten Interessen sowie Zielen, um ökonomische, soziale und ökologische Belange auszubalancieren.

 

Das Beispiel IDM Südtirol

Hier wird gerne auf das Beispiel der IDM Südtirol verwiesen. Diesen Ansatz finde ich auch vollkommen richtig, nur: Das ist keine DMO mehr. Dort ist der Tourismus ein Sektor unter anderen. Das müssen wir uns bewusst machen. Diese regionalen Planungseinheiten sind in "Rohform" in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts übrigens vorrangig im Ruhrgebiet erprobt worden, auch in Form der IBA Emscherpark. Für eine dieser Entwicklungsgesellschaften habe ich damals meine Diplomarbeit geschrieben, über Kongresstourismus an der Ruhr, als einen Faktor von vielen anderen. Die Idee ist also nicht neu. Sie ist aus touristischer Sicht jedoch in den letzten Jahrzehnten vom neoliberalen Zeitgeist mitunter überdeckt worden. Leider.

Selbstverständlich sehen wir da graduelle Unterschiede. Und mit dem ersten Tourismusbeauftragten einer Landesregierung, der gleichzeitig Geschäftsführer des Landestourismusverbandes ist, sowie dem angekündigten ersten Tourismusgesetz in Mecklenburg-Vorpommern, wird es erstmals einen direkten Einfluss auf die Legislative geben. Doch auch das legitimiert nicht dazu, gleich für den gesamten Lebensraum zuständig zu sein.

 

"Gemeinwohl" trifft es besser

Begrifflich halte ich persönlich den vielleicht altmodischen Begriff des Gemeinwohls oder der Gemeinwohlorientierung im Tourismus oder Destinationsmanagement für wesentlich passender. Er hat die gleiche Tiefe, beinhaltet jedoch keine automatisch daraus folgende Legitimation oder gar einen Führungsanspruch. Er sagt aus, was gemeint ist: Wir haben nicht mehr nur die Interessen einer Gruppe im Sinn, sondern gleichen die Interessen verschiedener Gruppen und der natürlichen Umwelt aus. Gleichwohl bleiben wir vorrangig die Akteure:innen aus dem Tourismus oder auch der Kultur, wo es vergleichbare Diskussionen gibt, die jedoch nicht gleich in Allzuständigkeitsfantasien münden.

Auch der im angelsächsischen Raum zunehmend verbreitete Begriff "destination stewardship" gefällt mir, lässt sich aber nicht so einfach übersetzen. Das
Global Sustainable Tourism Council  hat ihn definiert als “process by which local communities, governmental agencies, NGOs, and the tourism industry take a multi-stakeholder approach to maintaining the cultural, environmental, economic, and aesthetic integrity of their country, region, or town.”

 

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Wo sind die Ressourcen?

Ebenso bedenkenswert im Hinblick auf das Lebensraum-Management scheint mir ein weiterer Faktor zu sein. Woher sollen eigentlich die Ressourcen kommen, um alle diese Prozesse, die für diesen ganzheitlichen Ansatz nötig wären, steuern und umsetzen zu können? Schon jetzt ist die Tourismusbranche auf Destinationsebene chronisch unterfinanziert und kann kaum die bereits anstehenden Change-Prozesse bewältigen. Die Digitalisierung steckt mittlerweile fest oder holpert nur mühsam voran. Jede Menge Geld wird in teilregionalen digitalen Lösungen verpulvert. Da stehen wir erst am Anfang des langen Wegs. Und zurzeit überrollt schon der Fachkräftemangel die Branche und stellt eine existenzielle Bedrohung dar. Von den Problemen bei der Produktqualität ganz zu schweigen. Seit Jahren wachsen die Ansprüche an die DMOs, die Ressourcen wachsen jedoch nicht mit. Die Folge ist, dass vieles nur halbherzig "verwurschtelt" wird.

Klar: Damit sich das ändert, müssen Ressourcen gebündelt werden. DMOs werden mit anderen Organisationen fusionieren, siehe IDM Südtirol, um eben jenen breiteren Gemeinwohlansatz als Leitlinie zu etablieren. Das ist gut so. Der Tourismus muss sich dann aber stets mit den anderen strategischen Handlungsfeldern messen. Wir haben dann keine DMOs mehr.

Und: Diese Bündelungs- und Fusionsprozesse werden selbst erhebliche Ressourcen binden. Das ist ja ein Spezialgebiet des Tourismus: sich vor allem mit sich selbst und seinen Strukturen zu befassen. Zur Sicherheit füge ich hinzu: Das war Ironie.

Man denke jedenfalls nur an die mittlerweile zwei Dekaden umfassende, mittlerweile oft sinnfrei-kreisende Diskussion um das Drei-Ebenen-Modell, das mit dem neuen Modell übrigens ebenfalls in Teilen ausgehebelt wird (s. Südtirol). Sich vor diesem Hintergrund und der eher mäßigen Performance gleich mit einem allumspannenden Lebensraum-Management selbst zu überfordern, erschließt sich mir zumindest nicht automatisch.

 

Bündelung der Ressourcen in Fokusprojekten

Anstatt erneut umfassende strukturelle Prozesse anzustreben, zu denen wir angesichts der Krisen aus meiner Sicht keine Zeit haben, könnte es sinnvoller sein, innerhalb der Destinationen und Regionen agile Units zu bilden. Diese können bezogen auf eine spezifische Aufgabe die geforderte Gemeinwohlorientierung repräsentieren, sicherstellen und konkrete Maßnahmenpakete erarbeiten. Project-Owner stellen sicher, dass diese den jeweilig beteiligten Stellen und Rollen klar zugewiesen werden. Diese Project-Owner können, werden aber oft nicht aus dem Tourismus sein. Warum auch?

Wenn das Ziel erreicht ist und die Aufgaben erledigt, löst sich die Unit wieder auf. Selbstverständlich können verschiedene Units parallel existieren, tendieren aufgrund ihrer zeitlichen Begrenztheit dann jedoch nicht dazu, einen Selbsterhaltungstrieb als Organisation zu entwickeln, der wiederum Ressourcen verschwendet. Mir gefallen in diesem Zusammenhang die Smart-City- und Smart-Region-Projekte. Aber ich will die strukturelle Debatte hier nicht ausweiten, sondern final einen vermeintlich klassischen Gedanken vorbringen.

 

Anwälte der Gäste

Wenn ich persönlich als Tourismusexperte gemeinsam mit den lokalen oder regionalen Touristikern:innen in Planungsprozesse eingebunden bin, erkläre ich immer, dass wir hier auch als „Abgesandte“ der Gäste sitzen. Aus Perspektive des Lebensraum-Managements wäre dies eine Bevorzugung einer Gruppe. Nicht jedoch, wenn wir am Tisch sitzen mit Fachplanern:innen, Naturschützern:innen, Politik, Bürgern:innen etc. Dann nämlich geben wir den Reisenden eine Stimme, die eben NICHT vertreten sind und schaffen so den nötigen Ausgleich.

Es ist doch ein Trugschluss zu glauben, dass wir die ersten wären, die jetzt beispielsweise plötzlich für den Naturschutz kämpfen. Vielmehr haben WIR ihn vorher selbst oft nicht gebührend beachtet. WIR lernen gerade von den Klima- und Umweltschützern: innen, was WIR falsch gemacht haben. Sich da jetzt zum Lebensraum-Management aufzuschwingen, halte ich mitunter auch für etwas anmaßend. Mir scheint das eher der eigenen Kompensation zu dienen: des schlechten Gewissens und eines latenten Minderwertigkeitskomplexes. Wir können aus der eigenen Rückständigkeit in diesen Feldern doch nicht plötzlich einen Führungsanspruch ableiten.

Ja, Ökologie und Einheimische müssen mehr Gewicht erhalten. Das heißt aber, dass wir deren Vertretern: innen mehr Gewicht geben, und nicht, dass wir im Tourismus plötzlich deren Rolle übernehmen. Das wäre ja eine herablassende Entmündigung dieser Gruppen.

 

Lebensraum und Zielgruppenfokussierung stehen auch im Widerspruch zueinander

Mitunter etwas absurd wird das Zusammenspiel von Lebensraumorientierung im Tourismus, wenn ich so manche Markenentwicklung betrachte. Es gibt immer mehr Destinationen, die sich beispielsweise auf ausgewählte Sinus Milieus fokussieren, gerne und von allen genommen werden etwa die Postmateriellen oder in Städten die Expeditiven. Soll heißen: Gerne werden die gut betuchten und ausgabefreudigen Milieus genommen.

Dass ich mich damit mit einem oft eher mittelmäßigen Angebot in den brettharten Wettbewerb und "roten Ozean" begebe, in dem sich alle tummeln wollen, erscheint mir übrigens einer der großen Fehlschlüsse aus den von mir durchaus geschätzten Sinus Milieus zu sein. Ich freue mich schon auf diese Erkenntnis in den nächsten Jahren.

Noch mehr frage ich mich aber: Besteht denn auch die Bevölkerung in der Destination auch nur aus diesen Milieus? Und wenn wir uns in der Entwicklung des Erlebnisraums, der Mobilität, der Infrastruktur, der Services etc. vorrangig um diese Milieus kümmern, wie geht das zusammen mit dem Lebensraumgedanken? Mit Verlaub: Das ist das Gegenteil.

Klar: Im Marketing brauchen wir Zielgruppenfokussierung, aber wenn eher einkommensstarke Zielgruppen unsere Produktentwicklung bestimmen, profitiert davon nicht unbedingt die Reinigungskraft im Hotel. Ich betone das nur, um die Dimensionen unseres umfassenden Lebensraumansatzes deutlich zu machen. Und da ja in diesem Zusammenhang gerne große Worte bis hin zur "Menschenwürde" genutzt werden: Es ist schon ein ethisches Dilemma und eine Verstärkung der Klassenunterschiede, das getrennt voneinander zu betrachten. Meinen wir es dann wirklich ernst mit dem Gemeinwohl?

 

Das Wesen des Tourismus

Kehren wir mal zum Wesentlichen zurück: Ist das Wesen des Tourismus nicht das herzliche Empfangen, Begeistern und Beherbergen von Gästen, von Menschen, die zu uns kommen wollen? Wenn wir dennoch wollen, dass Einheimische und Umwelt stärker berücksichtigt werden, müssen wir uns dann nicht eher zurücknehmen und nicht auch noch aufspielen zu denjenigen, die den "Lebensraum" mal eben "übernehmen"?

Und: Ist hier nicht auch der Stand der Destinationsentwicklung zu betrachten? In reifen Destinationen ist es mitunter sinnvoll, den Tourismus zu stutzen, in "jungen" Destinationen kann er jedoch noch Entwicklungs- und, ja (!), auch Wachstumspotenziale bieten und aufgewertet werden. Es ist demnach auch eine Frage, von wo die Destination kommt. Und auch, wie sie strukturiert ist: Auf einer Nordseeinsel mag ein Lebensraum-Konzept auf touristischer Basis naheliegend sein, in Bonn ist es das nicht zwangsläufig. Da ist dies Aufgabe der partizipativen Stadtentwicklung und Stadtverwaltung.

 

Partizipativ zuende gedacht

Um eines klarzustellen: Ich will den Lebensraum-Ansatz hier nicht schlecht reden, im Gegenteil. Ich wünsche mir mehr Gemeinwohl, viel mehr! Ich möchte die Welt immer noch gerne besser machen. Aber: Mir scheint das entgegen der eigentlichen Intention hier und da eine sehr anmaßende, überfordernde und damit eben nicht ausgleichende Haltung zu sein.

Und er steckt (noch) voller Widersprüche. Nur weil der Tourismus eine interdisziplinäre Branche ist, prädestiniert ihn das nicht zu dieser Rolle. Fachlich schon gar nicht, dazu bleiben wir in vielen Handlungsfeldern viel zu sehr an der Oberfläche, was ich für Ressourcenverschwendung halte. Mal wieder. Wir sollten stattdessen danach streben, dass wir uns im Sinne der "destination stewardship" integrieren in eine gemeinwohlorientierte Entwicklung. Dann brauchen wir aber keine DMOs mehr, sondern konsequenterweise "IDMs". Ich begrüße das. Ich bin mir nur nicht sicher, ob das allen im Tourismus bewusst ist: dass sie damit auch die Axt anlegen an ihrem eigenen Selbstverständnis.

Und ich denke auch: Wir MÜSSEN Umwelt und Einheimische aktiv beteiligen und teilhaben lassen, sollten aber den Gästefokus und die Verantwortlichkeit für alle arbeitenden Menschen in der Branche dabei auch nicht verlieren. Wir sind die Experten:innen für Gastfreundschaft und Gäste, für alle unsere Mitarbeiter:innen. Denn - es ist wirklich so: Die Gäste haben keine anderen Anwälte:innen vor Ort. Nur uns.

 

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